Der Palast des Kalifen Karim Ben Nur

Das Buch

Als der achtjährige Kalle erfährt, dass es einen Palast gibt, der nur ihm gehört, steht für ihn fest: Er will ihn finden. Von den Quarumpl, dem Volk der Lüfte, werden er und seine Freundin Anna bis in die Weidenwälder gebracht. Von dort führt eine abenteuerliche Reise die beiden tiefer und tiefer in das sagenumwobene Land der zwei Monde. Doch dieses einst so freie und schöne Land wird von einem machtbesessenen Kalifen beherrscht, der nur für sein blutdürstiges Hobby lebt: den Elfenkampf. Mehr und mehr werden die Kinder so in den Freiheitskampf der unterdrückten Bevölkerung verwickelt. Und je näher die Reise Kalle zum Palast des Kalifen führt, desto tiefer führt sie ihn auch in seine eigene Seele. Er erfährt, was wahre Freundschaft ist und was es letzten Endes bedeutet, frei zu sein.

Buchauszug (Kapitel 1) »

1 Der Aufbruch

    Kalle war damals sage und schreibe acht Jahre alt, als ihm eines Tages sein Goldfisch erzählte, es gäbe einen Palast, der nur ihm, Kalle Radic, gehöre. Fern von der kleinen Stadt mit ihrer netten Bäckerei, in der Kalle jeden Samstag Brötchen kaufte, der Schreinerei von Herrn Hopfenmeier, wo es immer so gut nach Holz roch und dem fröhlichen, blonden Mädchen von nebenan, dessen Name der Junge bis jetzt noch nicht wusste; sie war dort mit ihren Eltern erst vor ein paar Tagen eingezogen. Aber er würde das schon noch herausfinden. Kalle fand, dass sie sehr nett aussah und wollte gern mit ihr spielen, traute sich aber noch nicht, sie zu fragen.

    Seine Mutter war tagsüber in der kleinen Buchhandlung in der Nachbarstadt, sein Vater war Schaffner und fuhr den ganzen Tag mit dem Zug durch das Land. Kalle fand das großartig, er wollte auch mal Schaffner werden, wenn er groß wäre.

    Na ja, das war seine Welt und er war eigentlich zufrieden, auch wenn es hin und wieder ganz schön langweilig war, wenn er so alleine zuhause herum saß, weil seine Eltern bei der Arbeit waren, und Freunde hatte Kalle auch nicht viele, weil er stotterte. Das machte ihn schon manchmal sehr traurig. Aber dafür las Kalle Bücher oder malte Bilder mit großen Segelschiffen oder geheimnisvollen Burgen mit Prinzen und Pferden. Ganz oft aber saß er vor dem Aquarium und redete mit Pit, dem Goldfisch. Man konnte wirklich interessante Gespräche mit ihm führen, Pit war ein sehr gebildeter und erfahrener Goldfisch. Das sind nicht viele Goldfische, die meisten Tiere dieser Gattung sind ziemlich dumm und denken nur ans Fressen und Luftblasen-Machen. Pit fraß auch gerne und machte mit Vorliebe Luftblasen, seine Luftblasen hatten jedoch immer sehr kuriose Formen. Manche sahen aus wie Pinguine, andere wie große, mit Lianen bewachsene Dschungelbäume, wieder andere hatten die Gestalt von Lokomotiven, die man dann so richtig über die Gleise rattern hören konnte.

    So erzählte Pit Kalle seine Geschichten, seine Abenteuer, die er erlebt hatte, seine weiten Reisen durch die Nordsee und den Amazonas. Kalle malte dann Bilder, Bilder von den großen Dingen, die er einmal machen würde, und Pit schaute sie sich immer sehr aufmerksam an und sagte seinem jungen Freund dann, dass es nicht mehr lange dauern werde, bis auch seine Zeit der großen Abenteuer beginnen werde. Wenn ich schreibe „er sagte“, meine ich natürlich „er machte Luftblasen“. Goldfische können nicht reden, das weiß ja jedes Kind. Aber Kalle verstand seinen Freund im Wasserglas und er wusste, dass Pit auch ihn verstand.

    Und so fand seine Mutter an jenem Nachmittag, an dem Kalle von seinem geheimnisumwobenen Palast jenseits der hohen Berge im Süden gehört hatte, im fernen Land der zwei Monde, einen sehr aufgeregten Sohn wieder, der eifrig damit beschäftigt war, allerlei nützliche Sachen in seinen Rucksack zu packen.

    „Ja, Kalle-Bub, das ist doch eine Überraschung, oder? Ich freu’ mich auch riesig, mal was gemeinsam zu unternehmen. Hat sie es dir selber gesagt?“

    Verdutzt sah Kalle auf und wusste überhaupt nicht, was er auf eine derart seltsame Frage seiner Mama antworten sollte. Wusste sie etwa von seinem Palast jenseits der Berge? Und wenn ja, wie lange schon, und woher? Und was war das mit „gemeinsam unternehmen“ . . . Dann musste sich das wohl um eine Familienerbschaft handeln. Vielleicht war ja ihr reicher Onkel McMorningsleep, der auf so einer Insel im Meer wohnte, gestorben. Kalle hatte ihn zwar nie kennen gelernt, aber er wusste aus Erzählungen von ihm.

    Was ihn jedoch am meisten interessierte: wer war „sie“? „Hat sie es dir selber gesagt?“ hatte seine Mutter doch gefragt und deswegen fragte er nun mit großen Augen zurück: „Wwer ist sie?“

    „Na ja, die kleine Anna von nebenan, die dort vor ein paar Tagen mit ihren Eltern eingezogen ist. Ich hatte ja auch schon öfters daran gedacht, sie mal alle zu besuchen, aber jetzt sind Hopferlings uns eben zuvorgekommen. Annas Mutter hat mich gestern angerufen und gefragt ob wir Lust haben mit in den Zoo zu kommen, weil Anna gerne mit dir spielen möchte, aber sie traut sich wohl nicht dich zu fragen. . . “

    Kalle wurde rot im Gesicht. Einerseits aus Erleichterung; seine Eltern wussten doch nichts von dem Palast. Andererseits aber war es ihm peinlich: Anna wollte mit ihm spielen und traute sich nicht. Er hatte immer gedacht, sie fände ihn bestimmt blöd mit seinem Gestotter und seinen O-Beinen. Wow! Anna wollte mit ihm spielen. Das war klasse. Natürlich wollte Kalle gerne mit Hopferlings und Mama und Papa in den Zoo und viele bunte, interessante Tiere anschauen. Er liebte das, und, so fand Kalle, ein Zoobesuch wäre doch noch ein schönes Abschiedserlebnis vor seiner großen Reise in ferne Länder, wo die Sterne in den Bäumen singen und immer Vollmond ist. Oder was hatte Pit erzählt?

    War ja auch irgendwie nicht so wichtig, wie das mit dem Mond jetzt war. Auf alle Fälle war es ein wundervolles geheimes Zauberland, in dem sein Palast stand und den wollte er finden. Jetzt. Gleich. Das heißt, wenn er es sich so richtig überlegte, morgen . . . nein, übermorgen. Das war früh genug. Morgen war erst mal Zoo mit Anna dran.

    Anna. Kalle fand das einen sehr schönen Namen, er passte zu ihr. Sie würden bestimmt gute Freunde, Anna und er.

    Und wenn er groß wäre würde er sie heiraten und sie wäre dann die Königin im Land des Sichelmondes und er wäre König und sie hätten hundert weiße Pferde, schnell wie der Wind und schön wie . . . so schön wie . . . ihm fiel kein passender Vergleich ein. Vielleicht so schön wie Anna? Oh, dann wären es sehr schöne Pferde. Ja, das würde ihr bestimmt gefallen. Und große Segelschiffe würde er haben. Eine ganze Flotte, die die sieben Meere, die das Land umgaben, unsicher machte, und Ritter würden für ihn kämpfen und durch das ganze Land würde eine herrliche Dampflok fahren, mit GoldverziertenWaggons, auf der er, der König, Schaffner wäre. Natürlich nur wenn er gerade nicht regieren musste, in seiner Freizeit sozusagen. Schaffner Kalle, das hörte sich gut an, fast so gut wie König Kalle, aber eben nur fast. Deswegen wollte er dann doch hauptberuflich König und Schaffner eben nur nebenberuflich werden.

    Mit diesen Gedanken schlief Kalle dann schließlich auch ein und erwachte am nächsten Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen lange vor seinen Eltern, die wahrscheinlich noch von fernen Ländern und Schlössern, von Zwergen und Feen träumten.

    Er überprüfte gleich noch mal sein Gepäck: Ein langes Seil, das war in den Bergen sicher wichtig, wie auch der dicke Pullover, auf hohen Bergen lag nämlich immer Schnee. Außerdem hatte er eine Taschenlampe, ein Messer, eine Flasche voll Apfelsaft (nein, natürlich keine Glasflasche, das wäre zu gefährlich), die belegten Brote würde Mama nachher machen (für den Zoo), er hatte aber auch noch zwei Packungen Nüsse aus dem Keller „geklaut“, für Notzeiten sozusagen. Dann waren da noch ein Feuerzug, was zum Schreiben, seine blaue Mütze, und noch ein paar andere Sachen, die er für wichtig hielt, wie zum Beispiel die kleine silberne Spielzeuglokomotive, die er mal von Oma Erna zu Weihnachten bekommen hatte. Sie könnte ihm als Modell für den Bau der großen Lok dienen.

    Als er sich ganz sicher war, dass auch nichts mehr fehlte, fing er an, den Frühstückstisch zu decken, erstens, dass sie schneller los konnten, und zweitens, weil seine Eltern ihn doch in guter Erinnerung behalten sollten, wenn er einmal König jenseits der Berge war.

    Der Kaffee war gerade fertig, als Papa gähnend und noch im Schlafanzug in der Tür stand.

    „Oh, Kalle, das find ich ja ganz lieb von dir, dass du den Tisch gedeckt hast. Komm, wir gehen gleich mal Mama wecken, bevor wir Männer alles auffuttern.“

    Und sie schnappten sich jeder einen Topf und einen Kochlöffel, schlichen sich ins Schlafzimmer und fingen lauthals zu singen an, während sie sich mit ihren Trommeln begleiteten:

    „Der Morgen ist schön, schau wie er lacht und die Sonne scheint auf deine Nasenspitze. Der Mond, der die Schlafenden nachts bewacht hat sich schon verzogen vor lauter Hitze und alle Vögel erzählen sich Witze: gib acht, gib acht der Mensch erwacht er hat’s endlich bemerkt es wird bald wieder Nacht und schaut er auf den Wecker ruft er ‘ach ihr Schrecker, es ist schon bald acht, bald acht in der Nacht!’ Wer hätt’ es gedacht, der Mensch ist erwacht.“

    Mama saß schon beim ersten Kochlöffel-auf-Topf-Schlag senkrecht im Bett.

    „Ach du meine Güte, wo ist der Schneemann hin gelaufen, lauf ihm doch hinterher . . . Hubert, was macht ihr denn hier? Wo ist der Schneemann? – Oh, ich habe geträumt!“

    Und so begann jener große Tag, an dem für Kalle ein Leben voller Abenteuer anfing.

    Nachdem der Reiseproviant schließlich fertig war, alle drei satt waren und Papa endlich seinen Führerschein gefunden hatte ging es los. Familie Hopferling fuhr hinter ihnen und Kalle wagte ab und zu mal einen verstohlenen Blick nach hinten, um Anna zu sehen, aber die Scheiben spiegelten zu sehr.

    Endlich waren sie da, seinen Rucksack, mit dem er eigentlich erst am nächsten Tag hatte aufbrechen wollen, hatte Kalle auch dabei, denn man konnte ja nie wissen, er könnte ja in den Tigerkäfig purzeln und da war es ganz gut, Feuer und Seil und Messer zu haben. Oder ein kleiner Elefant wäre insWasser gefallen und er, Kalle, würde ihn mit seinem Seil wieder raus ziehen (und Anna würde es sehen. . . )

    Sie stiegen aus dem Auto und die Eltern begrüßten die Nachbarn, die neben ihnen geparkt hatten.

    „So, Kalle, sag auch mal schön hallo zu Hopferlings“, sagte Mama und Kalle gab beiden höflich die Hand.

    „G-guten Tag“, sagte er und wurde schon wieder ein bisschen rot, weil er so stotterte. Und dann drehte er sich zu Anna. Es war so komisch, ihr gegenüberzustehen. Einen Moment lang vergaß Kalle alles andere, seine Eltern und Annas Eltern und Pit und den Palast und die Tiger und Löwen im Zoo . . . nur Anna. Sie hatte Augen wie ein klarer See und . . . sie war so schön. Schüchtern streckte Kalle seine Hand aus.

    „H-hallo, i-ich bin K-K-Kalle“, sagte er und schämte sich fürchterlich. Anna sah ihn an und Kalle hatte gedacht, sie würde ihn auslachen und das wäre entsetzlich gewesen, aber sie sah irgendwie erleichtert aus, fand er.

    „I-ich b-b-bin Anna“, sagte sie und der Junge bekam vor Erstaunen den Mund nicht mehr zu. Anna stotterte auch! Eine kurze Zeit standen beide sich sehr verdutzt gegenüber und die Welt schien erstarrt abzuwarten, was passieren würde. Dann fingen sie auf einmal an zu lachen, auf dem Boden zu kugeln, prustend und sich den Bauch haltend und alle Angst war weg und sie nahmen sich an der Hand und rannten lachend zum Eingang des Zoos. Ihre Eltern standen nur da und schauten ihnen groß hinterher, bis Kalles Papa zu grinsen anfing und meinte: „ich glaube, die beiden verstehen sich. Dann lasst uns doch auch mal gehen.“

    Es war wunderschön. Die Sonne schien warm vom Himmel herunter, die Kastanien standen in voller Blüte, auf ihnen sangen die Amseln und die Spatzen hüpften um sie herum und warteten auf ein paar Brotkrümel. Aber das schönste waren natürlich die Tiere. Da gab es Giraffen, die mit ihren langen Hälsen selbst die Bäume in ihrem Gehege überragten, gefährlich aussehende Löwen und Tiger, vor denen Kalle aber überhaupt keine Angst hatte, weil er ja auf der anderen Seite vom Gitter war. Sie sahen sogar, wie ein Tierpfleger das große dicke Walross mit Fischen fütterte, indem er sie in die Luft warf und „Fang, Bruno!“ rief , und tatsächlich, der Koloss setzte sich in Bewegung und fing die Leckerbissen. Das war sehr spannend und sogar Kalles und Annas Eltern standen da und staunten. Erwachsene sind ja sonst oft so gelangweilt, fand Kalle, sie stehen einfach nur rum, mit den Händen in den Hosentaschen, und anstatt die schönsten, fremdartigsten Tiere anzuschauen, gucken sie sich ihre Kinder an oder quatschen miteinander oder schauen in den Spiegel. Das ist doch irgendwie bescheuert, oder? In den Spiegel kann man schließlich jeden Tag schauen und seine Kinder sieht man auch jeden Tag. Aber in den Zoo kann man schließlich nicht jeden Tag gehen.

    Manchmal verstand Kalle die Großen nicht, aber seine Eltern waren absolut in Ordnung, fand er. Und Annas Eltern schienen eigentlich auch ganz nett. Und Anna selbst war das absolut tollste Mädchen, das er je kennen gelernt hatte. Sie kicherte nicht, wie die anderen, wenn sie ihn sah, wie er versuchte mit seinen O-Beinen auf einer Rasenabsperrung zu balancieren, was natürlich voll in die Hose ging, sie lief nicht panisch schreiend weg, wenn sie eine Spinne sah, sondern schaute sich im Insektenhaus voll Begeisterung an, wie die Riesenspinnen ihre Beute einwickelten und – überhaupt, man konnte mit ihr über alles reden.

    Anna erzählte Kalle von ihrer Familie, dass ihr Vater jetzt als Bauarbeiter arbeitete und dass sie aus ihrer alten Wohnung ausziehen mussten, weil sie zu teuer war. Annas Mutter war zuhause, sie war sehr oft krank und lag im Bett, aber keiner der vielen Ärzte, zu denen sie ging wusste, um was für eine Krankheit es sich handelte. Auf jeden Fall half Anna zu Hause viel mit. Kalle erzählte ihr auch von seiner Familie, von der Schule und von seinem Lieblingslehrer, Herrn Rockebrecht, mit dem sie schon so viele tolle Sachen gemacht hatten. Einmal hatte Herr Rockebrecht zum Beispiel eine Ratte mit in die Schule gebracht, die war ganz zahm gewesen, und weil sie ihr Herrchen nicht vollpinkeln wollte, hatte sie dann auch aufs Tagebuch gemacht. Ein lautes „I-gitt“ war durch die Klasse gegangen und Herr Rockebrecht hatte Kalle damals breit angegrinst und dann gemeint:

    „Tja, manchmal ist es sehr schwer, es allen recht zu machen“ und Kalle hatte zurück gegrinst, denn er wusste, dass Herr Rockebrecht ihn gern hatte. Das war schön gewesen. Anna musste laut lachen, als sie die Geschichte hörte. Sie lachte gerne. Als sie vor dem Kaninchengehege standen, in dem gerade fünf kleine Kaninchen um ihre Mutter herum hoppelten, nahm Anna die Hand neben den Mund und flüsterte Kalle ihr großes Geheimnis ins Ohr: „Du, weißt du was, ich krieg’ bald ein Geschwisterchen. Meine Mama ist schwanger.“

    Einen Moment waren beide ganz ruhig und es schien, als ob die Kaninchenmama ihren Kopf hob und lächelte, als wolle sie sagen „das ist aber schön, es ist nicht gut wenn Kinder alleine sind“.

    Kalle dachte das auch, er wünschte sich nichts mehr als einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester. Aber Mama hatte gesagt, sie könne keine Kinder mehr bekommen.

    Jetzt bekam Annas Mutter ein Baby. Er fing vor Freude an laut zu lachen bei dem Gedanken, dass bald ein Baby neben ihm wohnen würde. Er und Anna würden oft spazieren gehen und das Baby im Kinderwagen vor sich herschieben und es würde glucksen vor Freude, wenn sie zu dritt über die Wiesen kullern würden . . . vor ihrem Haus . . . auf der Blumenwiese, vor seinem und Annas Haus . . . Würde er das Baby je zu sehen bekommen? Kalle hatte fast vergessen, dass er in die Welt ziehen musste, dass er ab dem heutigen Tage ein Abenteurer war, der auf der Suche nach einem fernen Palast viele Strapazen auf sich nehmen musste und sich alleine Kälte, Hunger und wilden Tieren stellen musste. Zum ersten Mal erschien ihm seine Reise als fraglich. Wollte er überhaupt losziehen, weg von zuhause, weg von seinen Eltern, von Pit, von Herrn Rockebrecht . . . weg von Anna? Eigentlich erschien ihm das Leben gerade so schön und das Land mit den zwei Monden so weit weg, dass Kalle kurz davor war, sein Vorhaben aufzugeben.

    Dann aber dachte er an all die Abenteurer, von denen er gelesen hatte. Sie hatten alle ihre Familien zurücklassen müssen und waren alleine in die Fremde gezogen, ohne zu wissen, ob sie je wiederkämen. Er hatte sie immer bewundert und sich insgeheim gewünscht, so zu sein wie sie, so mutig und stark. Und jetzt, wo es so weit war, wollte er kneifen? Nein, das war nicht Kalle! Sollte Pit ihn einen Feigling nennen? Nein! Niemals!

    Aber der Gedanke beschäftigte ihn dennoch sehr. Und so ging Klein Kalle nun schweigend neben Anna her und grübelte. So eine Sache musste schließlich gut bedacht werden. Das war etwas anderes, als die Entscheidung, ob er nun in den Ferien zu Oma und Opa wollte oder nicht. Das war eine Entscheidung, die sein ganzes Leben verändern würde.

    Er hatte mit seinen Gedanken das Problem gerade an die elfmal umkreist und hatte schon einen kleinen Knoten im Gehirn, denn die Antwort fand sich einfach nicht, sondern schien sich hinter seinen Gehirnwindungen zu verstecken, auf jeden Fall war er gerade sehr, sehr angestrengt am Nachdenken, als Anna ihn plötzlich am Arm zog und mit klarer Stimme rief: „Hey, Kalle, guck mal, was sind denn das für Tiere?!“

    „Wo?“ Kalle tauchte mühsam aus seinen Gedanken auf und schaute in die Richtung, in die Annas Finger zeigte: nach oben. Und tatsächlich: auf einer großen, blühenden Kastanie saßen etwa sieben sehr seltsame Tiere. Sie waren etwas kleiner als Kalle und Anna, sehr dünn und ihre Haut schien bläulich-grün zu schimmern. Hände und Füße waren überdimensional groß und erinnerten an Frösche. Auch die Augen waren sehr groß und leuchteten leicht, was bei dem Sonnenschein aber schlecht zu erkennen war. Sie hatten alle ein sehr großes Blatt in den Händen, das einem Buchenblatt ähnlich sah, nur viel größer war. Und alle schienen auf die beiden Kinder zu schauen, als wollten sie sagen: „Kommt doch hoch zu uns!“

    Ja, genau so schauten sie. Als wenn sie sagen wollten: „Kommt, wir nehmen euch mit!“ Dabei rührten sie sich nicht von der Stelle. Kalle wusste nicht, was er davon halten sollte und ob er jetzt Angst haben oder sich darüber freuen sollte. Das war doch alles ziemlich seltsam. Er schaute zu Anna, oder dahin, wo er dachte, dass sie wäre, aber Anna war gar nicht mehr da. Erschrocken drehte er sich um sich selbst und musste feststellen, dass Anna bereits den halben Stamm der Kastanie hinaufgeklettert war.

    „Warte!“, schrie Kalle und stürmte zum Stamm. Er ließ Anna doch nicht alleine zu diesen. . . diesen. . .Wesen. Nein, das konnte er nicht zulassen!

    „Hast du nicht gehört, wie sie uns gerufen haben?“ fragte Anna mit ruhiger Stimme. „Sie möchten, dass wir zu ihnen kommen. Schau, sie winken uns.“

    Und wirklich, die grün-blauen Schillertiere waren aus ihrer Erstarrung erwacht und winkten mit ihren langen Fingern den beiden zu. Jetzt sah Kalle auch ganz deutlich den Lichtstrahl, der von ihren Augen ausging, sich wie ein Seil um seinen und Annas Körper wand und sie behutsam den Baum hinauf zog. Hinauf, bis in die Krone. Dort wurden sie von den Gestalten vorsichtig gepackt und zu ihrer Überraschung waren das keine nass-kalten, groben Hände, sondern warme und sehr sanfte. Und als sie dann beide sicher in einer Astgabel saßen, reichte eines der Wesen ihnen die Hand und sagte: „Hallo!“ und dann: „Ich hoffe, wir haben euch nicht zu sehr erschreckt.“

    Das war dann doch zuviel. Alles hätten diese Gestalten sagen können, Kalle wäre auf alles gefasst gewesen, aber doch nicht einfach „hallo“, das war doch. . . fantasielos. Ja, genau, diesen Fantasiewesen fehlte die Fantasie. „Krzmkir nub“ oder Rrrrschmarubel“ und ein Kopfstand und eine Verbiegung des Lichtstrahls aus ihren Augen, das wäre doch viel „normaler“ für solche Geschöpfe gewesen.

    Anna schien seine Gedanken zu lesen und fing an zu lachen. Und auch der augenscheinliche Anführer, der sie begrüßt hatte, begann aus vollem Hals zu lachen und alle anderen stimmten ein. Es war ein solch ansteckendes Lachen, dass auch Kalle einstimmte. Rrrrr- schmarubel! Er hatte manchmal schon seltsame Einfälle. Er musste sich den Bauch halten vor Lachen. Es war so schön, so befreiend, einfach nur dazusitzen und zu lachen, und diese Wesen waren lustig, sie schnitten die komischsten Grimassen, zogen sich ihre viel zu groß geratenen Unterlippen über die nicht vorhandenen Nasen bis unter die Augen oder versuchten mit ihren Händen gigantische Spinnen darzustellen, die Gummihüpfen spielten. Dabei hörte sich ihr Lachen selbst so hüpfend und springend an, dass es Kalle wunderte, wie sie so sicher auf ihrem Ast sitzen bleiben konnten.

    Anna war ausgelassen in eines der großen Blätter gepurzelt und lag dort nun wie in einer Hängematte, während zwei der Witzbolde sie darin hin und her schaukelten. Sie gluckste vor Freude und Kalle erwischte sich dabei, wie er sich fallen ließ, als sich die Luftschaukel gerade unter ihm befand und plumps - lag er mit Anna in dem wunderbar weichen, aber dennoch sehr stabilen Blatt, das einen Geruch von fernen Ländern an sich hatte. ‘Es riecht wie Regen und Mondschein und Apfelblüten und Fichtenharz und noch viel, viel mehr’, dachte er und versuchte sich hinzuknien. Schließlich gelang es ihm, nachdem er einige Male kichernd um Anna herum gekullert war und er lugte gespannt über den Rand des Blattes. Eigentlich wusste er auch nicht so recht, was er erwarten sollte, den Nordpol oder den Zoo oder sein Bett. . . Auf alle Fälle sah er auf den ersten Blick nichts als Kastanienblätter und Kastanienblüten, ab und zu ein Stück Ast, das zwischen der Blütenpracht und dem satten Grün hervor lugte. Das schien endlos so weiterzugehen und er konnte sich nicht erinnern, beim Hinaufklettern an soviel Kastanie vorbeigekommen zu sein.

    Beim genaueren Hinsehen entdeckte er dann ein kleines Loch im Blattwerk und dort, ganz, ganz weit unten, waren bunte Punkte, eigentlich kaum wahrnehmbar, aber Kalle hatte schließlich gute Augen, er konnte beim Augenarzt sogar die unterste Reihe auf der Tafel mit den Buchstaben erkennen. „Du hast wahrhaftig Adleraugen“, hatte der Doktor damals gemeint und Kalle war sehr stolz darauf gewesen.

    Die Wesen hatten wohl bemerkt, wie Kalle gespannt in die Tiefe schaute, denn sie hatten aufgehört das Blatt hin und her zu schaukeln und lachten auch nicht mehr so laut wie vorher, vielleicht aber auch nur, weil sie Bauchweh davon bekommen hatten.

    Auch Anna hatte ihre Nase über den Blattrand geschoben und guckte angespannt hinab.

    „Was sind das für Insekten?“ fragte Kalle, denn es handelte sich ja offensichtlich um Insekten bei dem, was dort unten herumwuselte. So klein und durcheinander. . .

    „Hmm. . . ich denke wir haben es hier mit Elefantenkäfern und einem Schwarm Menschlingen zu tun. Sehr interessante Spezies.“

    Die Grün-Bläulinge prusteten alle auf einmal los, dass einem Hören und Sehen verging. Dann fingen sie an zu hopsen und zu tanzen. Anna und Kalle saßen mit offenen Mündern in ihrer nun frei in der Luft schwebenden Luftschaukel und lauschten dem teils in Gekreische, teils in fröhlich zwitschernden Singsang übergehenden Lied:

    „Großer Zwitsch und kleiner Zwatsch im Grüntal liegt mein Schlumpl und becherweise tropft der Quatsch von Gritzniwai und Rumpl. Zwei Menschling warn die Herrscherlein im Mondschein von Schlapumpl vor tausend Jahrn im Mondenschein Karim Ben Nur, du Dumpl. Und’s Fischlein sprach: ‘s ist an der Zeit ‘s ist Schluß mit Schul’ und Kumpl pack dein Geschirr und schick dich fort mit Pudelmütz’ und Bumpl Jahopp, juhoh, die Gräser blühn und alle Bäume wachsen grün jahopp juchei juchumpl ihr fliegt mit den Quarumpl!“

    Und kaum hatten sie sich versehen, da bewegte sich ihr Blatt schon sanft durch die Kastanie hinaus in die Lüfte. WieWellenreiter standen die Quarumpl, wie sie laut ihrer eigenen Angaben ja zu heißen schienen, auf ihren Blättern und als Kalle und Anna zurückblickten, sahen sie nur einen riesenhaften Kastanienbaum, dessen Stamm sich in endloser Tiefe verlor und dort, noch weiter hinten, war noch einer und links und . . .

    Hatte Kalle da irgendetwas durcheinander gebracht? Ihm gingen die Zeilen des Frühlingsliedes durch den Kopf, das er in der Grundschule mal auswendig gelernt hatte:

    „Das Gras wächst und die Bäume blühen, so lasset ab von euren Mühen, erfreuet euch an der Natur und wandelt frei durch Wald und Flur.“

    Aber es schien ja doch anders rum zu sein. Musste es dann heißen: „Das Gras blüht und die Bäume wachsen, drum Leute macht euch auf die Haxen. . . ?“

    Kalle kratzte sich am Kopf. Er war sich sicher, das Lied richtig gelernt zu haben. Vielleicht hatte der Dichter versehentlich vergessen zu erwähnen, dass es die Bäume waren, die wuchsen. Obwohl, blühen taten sie ja auch. Na ja, vielleicht war das ja auch eine Ausnahme, genau genommen konnte sich Kalle nämlich auch an nichts Derartiges erinnern. Aber der letzte Frühling war auch schon lange her. Da kam ihm eine Idee: Es musste daran liegen, dass dieses Jahr ein Schaltjahr war. In Schaltjahren passieren immer sehr seltsame Dinge. Das wusste Kalle von seiner Großmutter. Tiere können plötzlich sprechen, Besen fegen von alleine, große Politiker stecken vor laufender Kamera den Daumen in den Mund – warum sollten dann nicht auch Bäume groß wie Wolkenkratzer werden?

    Kalle beschloss also, sich in diesem Jahr über nichts mehr zu wundern. Trotz allen guten Vorsätzen entdeckte er doch noch einige Dinge, die ihn sehr wunderten: Von all diesen riesigen Bäumen flogen Dutzende von Quarumpl, alle auf großen Buchenblättern. Sie segelten von allen Seiten daher, einige knieten auf ihren Luftschiffen, andere standen, wieder andere lagen auf dem Bauch und machten mit ihren langen Fingern Ruderbewegungen. Bald befanden sie sich inmitten eines Riesenschwarms Quarumpl und es sauste und gluckste um sie herum und brummte und brabbelte und derWind blies ihnen durch die Haare und ganz weit hinten sahen sie noch die Riesenkastanien wie Zahnstocher in den wolkenlosen Himmel ragen. Dort hinten befand sich der Zoo, die Tiger und die Krokodile, dort befanden sich ihre Eltern und das kleine Geschwisterchen im Bauch von Annas Mama, und noch ein kleines Stückchen weiter hinten blieben die Jungs aus Kalles Klasse, die ihn immer geärgert hatten, die Bücher mit den Abenteuern der größten Helden der Welt, Kalles Bilder von Schlössern und Schiffen und natürlich Pit, sein Freund im Wasserglas.

    Aber neben Kalle, da saß Anna, direkt neben ihm und ihre Haare berührten sein Gesicht wenn der Wind durch sie blies. Kalle schaute sie an und lachte über das ganze Gesicht, nicht laut und prustend, wie sie es mit den Quarumpl getan hatten. Nein, dieses Lachen war nur für Anna bestimmt. Und Anna nahm seine Hand und lächelte auch. Ja, jetzt hatte die Zeit der Abenteuer begonnen, aber Kalle hatte keine Angst, denn sie waren zu zweit. Anna war dabei, mit ihr würde er über die höchsten Berge klettern und durch die tiefsten Höhlen kriechen. Und er sah in ihren Augen, dass sie dasselbe dachte. Gemeinsam waren sie stark.